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Familienangehörige mit den Porträts von fünf Jugendlichen, die während den Gewalttaten in Kolumbien getötet wurden. ©Luis ROBAYO / AFP Familienangehörige mit den Porträts von fünf Jugendlichen, die während den Gewalttaten in Kolumbien getötet wurden.

Massengewalt verstehen, wiederholungen verhindern

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Thierry Cruvellier ist Chefredaktor von Justice Info, einem Medium der Fondation Hirondelle, das über die Initiativen für Gerechtigkeit in den Ländern berichtet, die sehr schweren Gewalttaten wie Kriegsverbrechen, humanitäre Verbrechen oder Völkermord ausgesetzt sind. „Damit Gerechtigkeit geübt werden kann, muss auch sichtbar sein, dass Gerechtigkeit geübt wird“ – so lautet der Leitsatz von Justice Info. Dieser Artikel ist unserer 12. Publikation "Mediation" entnommen, die Sie unter diesem Link finden.

Seit fast dreissig Jahren berichten Sie über die Gerichtsprozesse in der ganzen Welt, insbesondere über die Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was reizt Sie daran?

Thierry Cruvellier: Anfang der 1990er Jahre habe ich als Berichterstatter in Sierra Leone und Ruanda gearbeitet. Der Völkermord an den Tutsi im April 1994 in Ruanda hat mein berufliches und intellektuelles Leben verändert. Ich wollte die ersten Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (IStGHR) verfolgen, der im November 1994 von den UN eingerichtet wurde und seinen Sitz in Arusha in Tansania hatte. Ich bin für fünf Wochen nach Arusha gereist und bin fünf Jahre geblieben. Verfahren wie die des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) in Den Haag waren für unsere Generation von Journalisten das Äquivalent zu den Nürnberger Prozessen. Wir waren Zeugen einer massgeblichen Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die internationale Gemeinschaft schien eine Gerichtsbarkeit zu fordern als einen unerlässlichen Bestandteil für einen dauerhaften Frieden in von Völkermord zerrütteten Gesellschaften. Nach und nach wurden verschiedene Instanzen mit regionaler Reichweite oder weltweitem Anspruch geschaffen, beispielsweise der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Die Zuweisung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortung für bestimmte schwere Verstösse gegen das Völkerrecht wurde ebenfalls zu einer geopolitischen Herausforderung. Strategische und diplomatische Strategien sind quer durch diese Rechtsprechungsorgane spürbar.

Seitdem habe ich über zahlreiche Prozesse auf der ganzen Welt berichtet, insbesondere über die Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Sierra Leone, Bosnien-Herzegowina, Kambodscha, Kolumbien, Tschad). Die internationale Strafgerichtsbarkeit und die Übergangsjustiz sind mein Fachgebiet geworden. Die Berichterstattung über diese internationalen Verfahren ermöglicht es nicht nur, die Entwicklungen der Rechtssysteme und der Geopolitik auf der ganzen Welt zu analysieren, sondern auch die menschliche Gesellschaft zu reflektieren: in historischer Hinsicht dank den Aussagen von Zeitzeugen, in psychologischer Hinsicht, wenn man die Massengewalttaten verstehen will, und philosophisch betrachtet in Bezug auf Aspekte wie Bestrafung, Vergebung und Versöhnung. Für einen Journalisten ist dies ein unendlich reiches Feld. 

Der Prozess einer einzelnen Person kann dabei helfen, die Ereignisse der Geschichte, die komplex und traumatisch sind, anhand eines Lebenslaufs zu erzählen.

Welche besonderen Anforderungen stellen sich einem Journalisten, der sich mit diesen Themen beschäftigt?

Journalisten, die sich mit internationaler Gerichtsbarkeit und Übergangsjustiz beschäftigen, folgen denselben berufsethischen Prinzipien wie alle Journalisten: Unabhängigkeit, Nachvollziehbarkeit, Richtigkeit, Unparteilichkeit. Aus verschiedenen Gründen sind das Mass an Aufmerksamkeit und die Anforderungen, die diese Prinzipien an uns stellen, manchmal sehr hoch. Als Erstes muss man eine ausführliche Dokumentation erstellen: dazu gehört der historische Kontext der Konflikte, die oft komplex sind und sich in Ländern abspielen, die in grosser Entfernung von der kulturellen Herkunft des Journalisten liegen, aber auch das Recht und die Rechtsverfahren, die gleichermassen komplex sind und die in den Gerichten eingesetzt werden, um die eigenen Schwächen zu kaschieren. Auch darf man sich nicht zu sehr von seinem Mitgefühl leiten lassen, auch wenn es gegenüber den Opfern verständlich wäre. Man darf sich weder von der Grausamkeit der Taten niederschmettern noch von der rechtsprechenden Institution irreführen lassen. Wenn man sich mit den Beschuldigten auseinandersetzt, denen diese unvorstellbare Gewalt vorgeworfen wird, vergisst man leicht das Grundprinzip der Unschuldsvermutung. Der Journalist muss allen beteiligten Parteien sehr aufmerksam zuhören, auch der Verteidigung, deren Stimme bei solchen Verfahren oft am schwächsten ist. Bei Gerichten handelt es sich wie bei allen Rechtsprechungsorganen um Behörden, dies erst recht auf internationaler Ebene: Auch Ihnen passieren Ungerechtigkeiten oder rechtliche Fehler. Sie bewegen sich zudem in einer Art demokratischer Wüste, denn oft finden sie in grosser Entfernung zu den Gesellschaften statt, in denen die Verbrechen begangen wurden (IStGHR in Arusha und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag), und ohne traditionelle Kontrollmechanismen. Für einen Journalisten geht es bei der Berichterstattung über die internationale Gerichtsbarkeit immer auch um Fragen der Demokratie.

Welche Medien liefern die beste Berichterstattung über die Verfahren der internationalen Gerichtsbarkeit und der Übergangsjustiz?

Die Berichterstattung über die Verfahren ist eine Arbeit, die einen langen Atem braucht. Um die Details eines Prozesses ausreichend zu verstehen, muss man die ganze Zeit vor Ort sein, monatelang, sogar jahrelang. Oft sind es Medien von NGOs, die dies leisten können, und nicht die allgemeinen Medien, denen es an Zeit und Ressourcen fehlt. Daher haben sich die NGO-Medien dieser Aufgabe angenommen und berichten detailliert über die laufenden internationalen Prozesse.

Die Berichterstattung über Verfahren funktioniert in diesem Kontext umso besser, je stärker die nationale Presse ist. Aufgrund ihrer Landeskenntnisse haben die Journalisten vor Ort nicht nur einen kritischen und analytischen Blick auf die laufenden Prozesse, sondern bringen die Entscheidungen der Justiz des jeweiligen Landes besser an die Öffentlichkeit. Die nationalen Medien können stärkeren Druck ausüben, damit die Prozesse publik werden; somit kompensieren sie das Demokratiedefizit, das an den internationalen Gerichtshöfen vorherrscht.

Bei Justice Info arbeiten wir ausschliesslich mit Korrespondent:innen. Unser Medium versteht sich als Bindeglied zwischen der lokalen und der internationalen Ebene und richtet sich gleichermassen an beide Zielgruppen. Meiner Meinung nach hat die Arbeit unserer Korrespondent:innen grosse Bedeutung, denn sie haben den Mut, sich über lange Zeit in Übergangsjustiz-Prozessen ihres Landes zu engagieren wie Olfa Belhassine bei der Kommission für Wahrheit und Würde nach der Revolution 2011 in Tunesien, Mustapha Darboe bei der Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung nach der Diktatur in Gambia oder Andrés Bermúdez Liévano bei dem noch laufenden Prozess der ausserordentlich komplexen und ambitionierten Übergangsjustiz in Kolumbien (siehe Kasten). Ihre Berichte konnten der Leserschaft einen einzigartigen Einblick in diese Prozesse vermitteln.

Wie sehen die jüngsten Entwicklungen bei der Übergangsjustiz aus und welchen Einfluss hat das auf Ihre Arbeit?

Im Gegensatz zur Situation vor dreissig Jahren sind die schweren Völkerrechtsverletzungen kein Randthema mehr. Sie stehen bei allen allgemeinen Medien in den Schlagzeilen, wie aktuell beim Konflikt in der Ukraine oder in Israel/Palästina (siehe Kasten). Bei Justice Info versuchen wir, die Verbindung herzustellen. Diese Idee mag naiv klingen, ist aber fundamental für die internationale Gerichtsbarkeit. Grausamkeiten, die die Menschenwürde an einem bestimmten Ort auf der Welt in Frage stellen, betreffen nicht nur die Menschen dort, sondern die ganze Menschheit. In unseren Artikeln versuchen wir Parallelen zwischen den Verbrechen, den Ländern und den juristischen Vorgehensweisen aufzuzeigen, damit man die Gewalttaten verstehen kann. Mit diesem bescheidenen Beitrag kämpfen wir gegen Gewalt.

Die Übergangsjustiz betrifft nicht mehr nur Kontexte, in denen ein Krieg oder eine Diktatur stattfand. Das zentrale Argument des Menschenrechtsverstosses bringen mittlerweile zahlreiche NGOs auch in anderen Bereichen vor für ihre Verantwortungslosigkeit in Bezug auf den Klimawandel oder für Umweltzerstörungen an. Die Frage der Wiedergutmachung von Kolonialverbrechen, darunter die Rückgabe von Gütern, die in den kolonialisierten Gesellschaften geplündert wurden, ist wieder in den Vordergrund gerückt. Für die Bearbeitung dieser Themen wurden mehrere Wahrheitskommissionen eingesetzt. Die Frage der indigenen Völker, die Opfer der Kolonialisierung und der Zerstörung ihres Lebensraums durch die Industrie oder die intensive Landwirtschaft, steht im Mittelpunkt dieser neubelebten internationalen Gerichtsbarkeit und Übergangsjustiz. Bei den aktuellen Gewaltverbrechen tragen die Akteure im Norden eine Mitverantwortung. Das ändert zwar nichts an der Arbeit des Journalisten an sich. Das Netzwerk unserer Korrespondent:innen muss jedoch ständig ausgebaut werden, um mit der Dynamik dieser Entwicklungen Schritt zu halten. Die internationale Gerichtsbarkeit bzw. die Übergangsjustiz entwickelt sich ständig weiter und reagiert auf die Erwartungen der Öffentlichkeit. Wir müssen vorausdenken. Die Gewalttaten extremistischer Gruppen, religiöser Institutionen, Banden und Polizeigewalt sind eine Tatsache, die wir in unseren künftigen Publikationen behandeln müssen.

Dieser Artikel ist unserer 12. Veröffentlichung "Mediation" mit dem Titel "Internationale Gerichtsbarkeit und Übergangsjustiz verständlich machen" entnommen, die unter diesem Link verfügbar ist.